Donnerstag, 4. April 2002, Krakau
Und dann kommst Du ö Wanderer ö in die fremde Stadt und Du suchst einen Ort an dem Du Fremder sein kannst und doch daheim und Du blickst Dich um im Zentrum Deiner vermeintlichen Wünsche und findest nur Wegweiser mit Kilometerangaben für andere Städte.
Deshalb erschließt sich dem Suchenden auch ein Lokal wie dieses nicht auf den ersten Blick: Unscheinbar kommt es daher, dreckiges Schild, Fenster schon lange nicht mehr geputzt, draußen der ärmliche Markt im Zentrum des jüdischen Viertels Kazimierz. Chymia ist die schwarze Erde und schwarz sind hier die Wände, von den vielen Kerzen, die uns den Weg weisen, Alchemie die Wandlung von Alltäglichem zu Besonderem, hier drinnen wandeln sich Leben am Rande des Existenzminimums in Freiheit des Geistes um. Nicht schwarz wie noch tags zuvor in Nowa Huta, wo die Russen den neuen sozialistischen Menschen erschaffen wollten, geboren im Ruß - nicht einmal die Sonne konnte er sehen - anders schwarz, geschichtsträchtig, obwohl erst 2 Jahre alt. Es ist der Tag, an dem die Juden die Türstöcke mit Blut bestrichen, und die Katholiken den Sieg des Geistes über das Fleisch begehen. Neben uns am offenen Kamin drei Models, so schön, so unaufgeregt - auch sie müssen ihr Bier an der Theke holen.
2 Türme, die in Amerika eingestürzt sind? Ach ja, Amerika, wie weit ist es doch weg... Wir kommen alsbald ins Philosophieren, versteigen uns in Verschwörungstheorien, die auf diesem Boden schnell gedeihen, weitergereicht werden über Generationen aus Angst vor der sozialen Wirklichkeit, und das Gefühl, hier schon immer gewesen zu sein, verstärkt sich, als mich eine der Drei ins Nebenzimmer, das von Kerzen hell erleuchtet wird, und das nur durch einen Schrank zugänglich ist, führt. Die seltsamen Klänge der Einstürzenden Neubauten, die beunruhigende Statue am Eingang - vergessen. "Schau" sagt sie und führt meine Hand ans staubige Fenster. Und tatsächlich sehen wir beide für einen Moment den grünen Geiger am Dach des gegenüberliegenden Hauses. Er spielt ein altes Lied und seine Schläfenlocken tanzen dazu. Doch warum nur scheint plötzlich die Sonne? Woidl

Alchemia
Ulica Estery 5
Kazimierz
Krakau